, ,

Olaf Nicolai: ESCALIER DU CHANT

Programmleitung

Talks and Lectures Escalier du Chant

Olaf Nicolai: Escalier du Chant
Pinakothek der Moderne, München
Januar bis Dezember 2011
Kurator: Bernhart Schwenk

Website

 

Performance Escalier du Chant 13.1.2011

Foto: Haydar Koyupinar; © Pinakothek der Moderne

 

Mit Escalier du Chant entwickelt Olaf Nicolai das Projekt einer gesungenen Jahreschronik für den großen Treppenaufgang der Pinakothek der Moderne, München.

Im Mittelpunkt der Soundinstallation steht die menschliche Stimme – in ihrer sinnlichen Ausdruckskraft, aber auch in ihrer politischen Dimension. Liedkompositionen internationaler zeitgenössischer Komponisten, die während der zwölf Monate des Jahres 2011 entstehen und aktuelles politisches Geschehen verarbeiten, fügen sich zu einer gesungenen „Jahreschronik“. Als A-Cappella-Stücke werden diese Lieder von Sängerinnen und Sängern der Stuttgarter Vocalsolisten auf der großen Treppe uraufgeführt. Es gibt keine festgelegten Aufführungszeiten, die Lieder werden zu unterschiedlichen Zeiten mehrfach am Tag wiederholt.

»Bei meiner Arbeit geht es um die Bedeutung des Klangs – dies deutet schon ihr Titel an: Durch das Aussprechen des französischen Werktitels „Escalier du Chant“ ergibt sich eine Anspielung auf Marcel Duchamp. Dessen vor 100 Jahren entstandenes Gemälde „Akt, eine Treppe herabsteigend“ erweiterte radikal die traditionelle Vorstellung des unbewegten Bildes um die Seh-Erfahrungen des bewegten. Das Gemälde von Duchamp lässt Zeit sichtbar werden. Auch meine Arbeit verbindet eine Treppe mit einer Zeiterfahrung.« Olaf Nicolai

An ausgewählten Terminen der Live-Performances lädt das Begleitporgramm Talks and Lectures dazu ein, zentrale Themen von Escalier du Chant zu reflektieren. Fragen wie die nach den Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung politischer Prozesse, nach dem Zusammenhang von Sinn und sinnlicher Erfahrung und der Performativität von Klang und Stimme stehen im Mittelpunkt der Vorträge und Gespräche mit den beteiligten Komponisten sowie Gästen aus Kulturwissenschaft, Medientheorie und Klangforschung.


Escalier du Chant, Talks and Lectures

 

 

27.3.2011: Talks and Lectures #1

POLITIK DES ÄSTHETISCHEN – ÄSTHETIK DES POLITISCHEN
Gespräch mit Tony Conrad, Sabine Sanio und Olaf Nicolai
Moderation: Bernhart Schwenk

Klang und Öffentlichkeit, der Bezug der Sinne zum Politischen und die Wahrnehmung von Zeit und der Dauer eines Ereignisses verbinden das Konzept von Escalier du Chant mit den Arbeiten des amerikanischen Musikers, Video- und Performancekünstlers Tony Conrad. Vibrierende Geigenakkorde gehören zu den Markenzeichen des Avantgarde-Künstlers, der in den 60er Jahren mit John Cale und La Monte Young den Dronen-Sound begründete und damit großen Einfluss auf die Pioniere des Minimalismus ausübte. Später stand Conrad bei der Gründung der Gruppe „The Velvet Underground“ Pate. Sein Film „The Flicker“ („Das Flimmern“) von 1965 gilt mit einer 30-minütigen Abfolge hypnotischer Stroboskop-Effekte als Schlüsselwerk des frühen structural films. Tony Conrads Kompositionen für Escalier du Chant rücken das musikalische Erleben weit weg vom Text des Librettos und thematisieren das Lied als politisches Werkzeug an sich. Gefragt nach dem Politischen in der Kunst und dem kritischen Potential der Avantgarde, lautete die Antwortet: „Alles ist Propaganda! Die Pflicht für einen bewussten Kulturproduzenten sei es herauszufinden, welche ideologischen Botschaften die eigene Arbeit unterstützt.“ („The duty as increasingly conscious cultural producer is to figure out how and what ideological messages our own work is in fact supporting.“)

 

PASSAGEN. DAS HÖREN IM BLICK
Vortrag von Sabine Sanio

John Cage lenkte mit der „Ästhetik der Unbestimmtheit“ und seinen von Duchamp inspirierten musikalischen Readymades Ende der 50er Jahre die Aufmerksamkeit auf den Prozesscharakter der Musik – viele Bildende Künstler entwickelten aus der Idee des Prozesses eigene Konzepte zur Überwindung der Idee des autonomen Werks. Allerdings stellte sich nun die Frage nach der Partizipation – die neuen performativen Konzepte besaßen daher von Anfang an eine unmittelbar soziale und politische Dimension. Als fast ebenso wegweisend sollten sich die Experimente mit dem Tonband erweisen, die Anfang der 60er Jahre die frühe Minimal Music prägten. Der von Terry Riley und La Monte Young entdeckte Loop ist ein Effekt der neuen musikalischen Reproduktionstechniken. Heute in allen musikalischen Strömungen und Genres präsent, war er für die Minimal-Komponisten ein wichtiges Werkzeug, um die Mechanismen der Wahrnehmung musikalisch zu reflektieren.
Sabine Sanio, Medientheoretikerin und Professorin für Theorie und Geschichte auditiver Kultur an der Universität der Künste Berlin, stellte in ihrem Vortrag verschiedene Konzepte und Problemstellungen der Musik – flankiert von den Antworten und Modifikationen der Bildenden Kunst – dar, und zeichnete Etappen dieser bis heute andauernden Auseinandersetzung nach.


 

29.5.2011: Talks and Lectures #2

AM ANFANG IST MUSIK
Das Nahen der Götter vorbereiten. Von Sappho bis Electric Ladyland
Vortrag von Friedrich Kittler

anschl. Friedrich Kittler im Gespräch mit Anthony Moore
Moderation: Dirk Setton

Im Mittelpunkt des zweiten Termins der Talks and Lectures stand mit Friedrich Kittler einer der einflussreichsten deutschen Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker – verstorben nur wenige Monate später, am 18. Oktober 2011. Das Ernst von Siemens-Auditorium füllte er mit einer leidenschaftlichen, großen Erzählung von den altgriechischen Liebesliedern der Dichterin Sappho bis zu dem legendären und letzten von Jimi Hendrix produzierten Album „Electric Ladyland“. Ein Vortrag, ein Remastering des nietzscheanischen Leitmotivs der ewigen Wiederkunft des Gleichen – jene vorsokratische Notationspraxis und Harmonielehre, in der Eros und Denken, Spielen und Musik eine ursprüngliche Einheit bilden.

Über den Ursprung der abendländischen Kultur in der Musik und die Zusammenhänge von Stimme, Akustik und Sinnproduktion sprach Friedrich Kittler anschließend mit Anthony Moore. Der britische Audiokünstler, Musiker und Songwriter (u.a. für Pink Floyd) ist Professor für Musik, Klang und Geräusch an der Kunsthochschule für Medien Köln.

Dirk Setton, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, moderierte das Gespräch.

Mit freundlicher Unterstützung der Hubert-Burda-Stiftung


 

25.9.2011: Talks and Lectures #3

VOM SINN DES SINGENS
Gespräch mit Georg Katzer, Elliott Sharp und Olaf Nicolai
Moderation: Bernd Künzig

„Nicht ein politisches Lied machen, sondern ein Lied politisch“, lautete der Untertitel dieser Gesprächsrunde und rekurrierte damit auf ein Diktum Jean-Luc Godards aus den 60er Jahren, der auf die Frage „was einen politischen Film kennzeichnet“ antwortete, dass es nicht darum geht, einen politischen Film zu machen, sondern einen Film politisch! Verknüpft ist damit die Frage nach Inhalt und Struktur, die auch Olaf Nicolais Konzept für Escalier du Chant unterliegt – etwa dem konkreten Auftrag an die Komponisten, eine politische Nachricht ihrer Wahl zu thematisieren, und als formal-abstraktes Zeichensystem die Bedingung für die Performance im öffentlichen Stimm- und Klangraum der großen Treppe in der Pinakothek der Moderne zu liefern.

Von den spezifischen ästhetischen Bezügen zwischen menschlichem Körper und Stimme und den Möglichkeiten (und/oder Grenzen) politischer Artikulation und Sinnbildung ausgehend, stellte das Gespräch mit den Komponisten Georg Katzer und Elliott Sharp zwei spannende Protagonisten der Gegenwartsmusik vor: Wie Olaf Nicolai aufgewachsen und sozialisiert in der DDR, gilt Georg Katzer als einer der Pioniere elektronischer Neuer Musik und steht als Meisterschüler von Hanns Eisler in der Tradition des politischen Lieds als verbaler und aufklärerischer Vorgang. Gewissermaßen den systemischen Gegenpol dazu bilden die ästhetisch gebrochenen Klangstrukturen des experimentellen US-amerikanischen Avantgarde-Multiinstrumentalisten und Komponisten Elliott Sharp.

Moderiert wurde die Gesprächsrunde von Bernd Künzig, Redakteur für Neue Musik beim Südwestrundfunk in Baden-Baden.


 

27.11.2011: Talks and Lectures #4

TEXT TON SINNPRODUKTION
Gespräch mit Enno Poppe, Marcel Beyer und Olaf Nicolai
Moderation: Ulrich Müller

Partituren waren für Enno Poppe schon im Kindesalter wie Bücher. Das akustische Erlebnis steht im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens dieses Komponisten, Dirigenten und wichtigen Vertreters der Gegenwartsmusik in Deutschland. Seine große Verbundenheit mit dem vertonten Wort klang auch in den Liedern an, die im Rahmen der Performances von Escalier du Chant uraufgeführt werden. Entstanden sind diese in enger Zusammenarbeit mit dem Lyriker, Romancier und Essayisten Marcel Beyer. Die literarische Auslotung von Sprache, Stimme und Musik und die Verknüpfung dieser Motive mit politischen Kontexten prägen viele Werke dieses vielfach preisgekrönten Autors – darunter der Roman „Flughunde“, verfasst als akustische Kartografie des Dritten Reichs.

Geschichte und Kultur als prägende Momente für das, was bzw. wie wir sprechen, singen und hören/verstehen, künstlerische Ideenkomposition und Werkästhetik, sowie die Frage nach der politischen Dimension von Kunst standen im Mittelpunkt der letzten Talks and Lectures. Moderiert wurde das Gespräch von Ulrich Müller, Musikjournalist, Theoretiker im Bereich Klang, Theater und Neue Musik, und selbst seit vielen Jahren Autor und Musiker.

Die Veranstaltungen fanden auf der großen Treppe der Pinakothek der Moderne statt – mit Ausnahme des Vortrags von Friedrich Kittler am 25.9.2011, der im Ernst von Siemens-Auditorium gehalten wurde.


 

Mitschnitte der Talks and Lectures unter www.escalierduchant.org

Weitere Projekte